Gluten in den letzten Jahren immer häufiger ins Zentrum des Interesses gerückt. Schwere Beschuldigungen wie Darmbeschädigungen, Schwächung des Immunsystems und Entzündungen liegen im Raum. Doch ist es wirklich so gefährlich? Ein Überblick über Gluten, seine Funktionen, mögliche Probleme und mehr.
Der heutige Beitrag ist ein Gastartikel von Martin Auerswald. Martin ist studierter Biochemiker und hat in der klinischen Forschung im Bereich Darmerkrankungen gearbeitet. Auf SchnellEinfachGesund und Primal State schreibt er über schnelle und einfache Gesundheitstipps, die wissenschaftlich fundiert sind und die jeder schnell und einfach in seinen Alltag integrieren kann.
Was ist Gluten und welche Funktion erfüllt es?
Gluten ist das wichtigste Speicherprotein im Weizenkorn. Es ist ein sehr großes Protein und hat im Weizen die Funktion, den Keimling zu schützen, ihm eine feste Struktur zu geben und im Falle der Keimung als Aminosäurespeicher zu dienen. Gluten an sich besteht aus Untereinheiten, genauer den wasserlöslichen Glutenine und den alkohol-löslichen Gliadinen.
Jedes Getreide hat ein eigenes Speicherprotein mit einem eigenen Namen. So heißt es im Hafer Avenin und in Gerste Hordein. Umgangssprachlich wird Gluten als das Speicherprotein aller Getreidesorten bezeichnet, was jedoch falsch ist. Streng genommen handelt es sich nur um das Speicherprotein im Weizen und dem Dinkel, einer Urform des Weizens.
Die Speicherfunktion ist nicht umstritten und bekannt. Wo sich Wissenschaftler, Ernährungsberater und Biologen seit Jahren streiten, ist die Schutzfunktion: Macht Gluten das Getreidekorn schwer verdaulich und schützt es so?
Gluten ist in seinem rohen Zustand schwer bis gar nicht verdaulich für den menschlichen Körper. Wird das Getreide gekocht, ist es bekömmlicher und wird in seiner 3-D Struktur etwas aufgefaltet. Doch wirklich bekömmlich wird es Studien zufolge erst, wenn es fermentiert und dann gegessen wird. In der Form als Sauerteig. Darum soll es später noch gehen.
Getreide früher und heute
Die Spezies Homo sapiens gibt es seit mehreren Millionen Jahren. Getreide essen wir in Mitteleuropa erst seit etwa 6.000 Jahren, was nicht viel im Vergleich zu den Millionen Jahren davor ist. Doch nicht nur das, auch das Getreide hat sich geändert: Den Weizen an sich gibt es in der Natur gar nicht. Denn es ist eine Kreuzung aus mehreren Wildgräsern, wahrscheinlich aus Emmer, Einkorn und Dinkel.
Jahrtausende lang wurde der Weizen immer mehr gezüchtet, um mehr Ertrag und mehr Widerstand zu erhalten. In den letzten hundert Jahren hat sich jedoch ein großer Sprung getan: Moderne Weizenzüchtungen enthalten ein Vielfaches mehr an Gluten als seine Vorgänger.
Es stimmt daher, dass wir heute mehr Gluten verzehren als früher. Hinzu kommt noch ein weiterer Fakt: Das Bäckerhandwerk hat sich sehr gewandelt.
Bis vor etwa hundertfünfzig Jahren, vor Beginn der Industrialisierung, war Sauerteig die wichtigste Vorbehandlung. Das Getreide wurde mit Milchsäurebakterien und Hefen fermentiert und somit bekömmlicher gemacht, und erst danach ausgebacken. Seit Beginn der Industrialisierung hat Sauerteig keinen wirklichen Platz mehr im Bäckerhandwerk. Nur wenige Bäckereien setzen noch darauf.
Ein Problem dabei könnte sein, dass das Gluten im späteren Brot nicht nur mehr, sondern auch unbekömmlicher vorliegt. Denn der Sauerteigschritt bleibt heute aus Zeit- und Geldgründen meistens weg. Das ist nicht nur bei Weizenprodukten, sondern bei allen Getreidesorten, aus denen Brot gebacken wird, der Fall. Brot war immer die wichtigste Verzehrform von Getreide.
Was passiert, wenn wir Gluten essen?
Angenommen, wir essen gerade ein Stück Toast. Aus Weizen, der nicht fermentiert wurde. Was passiert mit dem Gluten?
Normalerweise wird ein Protein im Magen durch die Magensäure denaturiert, also aufgefaltet. Aus dem Proteinknäuel entsteht dabei ein langer Faden. Im Dünndarm wird dieser Faden dann von Protein abbauenden Enzymen in seine Einzelbestandteile, die Aminosäuren, zerlegt.
Gluten ist ein sehr großes und sehr dicht gepacktes Protein. Ohne die Fermentation kann die Magensäure die 3-D Struktur nur schwer aufbrechen. Umso schwerer haben es später auch die proteinabbauenden Enzyme.
Das Gluten kann im Dünndarm also nur schwer verdaut werden. Was passiert dann? Aus Studien im Magen-Darm-Trakt ist bekannt, dass Gluten direkt an das Darmepithel bindet. Das Darmepithel ist die Darmwand und nimmt die Nährstoffe aus dem Dünndarm auf. Bindet Gluten nun daran, kann es zu Reaktionen des Immunsystems (Entzündungen) kommen.
In seiner stärksten Form kann diese Entzündung in Zöliakie ausarten oder zur Entstehung von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen beitragen. Denn Gluten ist ein sehr bindungsfreudiges, also aggressives Protein, das nur allzu freudig an das Darmepithel bindet.
Was Gluten auch macht, ist, dass es die Verbindungen zwischen den Darmzellen lockert, in dem es die Produktion eines Botenstoffes namens Zonulin begünstigt. Heute ist bekannt, dass Gluten zur Entstehung des Leaky Gut Syndroms, einem löchrigen Darm, beitragen kann.
Diese Faktoren sind wissenschaftlich gut untersucht und für große Mengen von Gluten bei regelmäßigem Getreideverzehr gut dokumentiert. In der extremen Form sprechen wir von Zöliakie.
Zöliakie – Wenn Gluten zum Problem wird
Zöliakie ist eine Autoimmunerkrankung, die durch Gluten ausgelöst wird. Was dabei passiert ist, dass es Gluten an die Darmwand bindet. Ein Enzym namens Transglutaminase erkennt das Gluten und führt enzymatische Reaktionen durch. Damit wird die Struktur des Glutens verändert und die Bindung zum Darmepithel noch weiter verstärkt.
Aus diesem unnatürlichen Gluten-Darm-Komplex entsteht eine Entzündungsreaktion, da das Immunsystem nicht weiß, ob das nun ein Freund oder ein Feind ist. Das Immunsystem bekämpft den Komplex und damit auch die Darmwand. Das passiert bei Zöliakie.
Durch strengen Verzicht auf Gluten ist Zöliakie behandelbar. Heilbar ist diese sogenannte Glutenallergie jedoch nicht.
Gluten, chronische Darmerkrankungen und Autoimmunerkrankungen
Bei Menschen mit einem empfindlichen Darmtrakt, einem leicht reizbaren Immunsystem oder einer genetischen Prädisposition kann Gluten Entzündungen im Darm auslösen, die zu chronischen Darmerkrankungen führen können. Reizdarmsyndrom, Leaky Gut Syndrom, Morbus Crohn und einige Autoimmunerkrankungen stehen mit Gluten in Verbindung.
Gluten bei gesunden Menschen – Eine Gefahr?
Führt Gluten automatisch zu Darmerkrankungen oder gibt es für gesunde und genetisch wenig anfällige Menschen auch eine reelle Bedrohung?
In diesem Punkt streiten sich viele Experten. Es ist bekannt, dass Gluten auch bei gesunden Menschen an die Darmwand bindet und dadurch leichte Entzündungen verursachen kann. Wird Gluten nur gelegentlich und nicht in zu großer Menge konsumiert und ansonsten auf eine gesunde Lebensführung geachtet, fallen diese kleinen Entzündungen nicht zu sehr ins Gewicht. Es könnte jedoch sein, dass die Waage irgendwann kippt und Gluten alles noch weiter verschlimmert.
Inwiefern es also bei gesunden Menschen um eine ernsthafte Bedrohung darstellt, da will sich die Wissenschaft nicht einigen. Worin sich aber alle einig sind: Dass Getreide so bekömmlich wie möglich konsumiert oder auf glutenfreies Getreide zurückgegriffen werden sollte.
Glutenfreies Getreide
Es gibt Dutzende Getreidesorten, auf die wir heute zurückgreifen können. Indem wir unseren Speiseplan variieren, nutzen wir nicht nur die vielen verschiedenen Geschmacksrichtungen. Wir können auch die Nährstoffe vieler verschiedener Pflanzen aufnehmen, denn jedes Getreide enthält einzigartige Inhaltsstoffe, von denen der Körper profitiert.
So minimiert sich auch das Risiko für Allergien gegenüber bestimmten Getreideprodukten.
Anfangs hatten wir, dass eigentlich jedes Getreide ein glutenähnliches Protein enthält. In den folgenden Getreidesorten und Pseudogetreidesorten sind die Speicherproteine weniger aggressiv und werden in der Regel gut vertragen:
- Hirse
- Hafer/Haferflocken
- Amaranth
- Quinoa
- Mais
- Reis
- Braunhirse
- Buchweizen
- Sorghum
Sauerteigprodukte – Die Kraft der Natur nutzen
Sauerteig ist die ursprünglichste Art, Getreide zu verzehren. Es wird bekömmlich gemacht und viele problematische Inhaltsstoffe werden abgebaut und aufgespalten. Am Ende ist nur noch ein Bruchteil des Glutens enthalten, wie ursprünglich (etwa 5 %). Ob es wirklich gesünder ist, sei mal dahingestellt. Aber bekömmlich ist es auf jeden Fall, und für viele ist es auch kulinarisch interessanter.
Fazit – Ist Gluten wirklich so schlecht?
Fakt ist, dass Gluten bestimmte Reaktionen im Darm provoziert. Fakt ist auch, dass sich der Glutenverzehr aus Gründen der Züchtung und der abnehmenden Wichtigkeit von Sauerteigprodukten in den letzten hundertfünfzig Jahren stark erhöht hat. Im extremen Fall kann Gluten zu entzündlichen Darmerkrankungen führen. Inwiefern das auch bei gesunden Menschen der Fall ist, bleibt eine Streitfrage.
Doch die meisten sind sich einig, dass Sauerteig die beste und eine leckere Möglichkeit ist, Getreide bekömmlich zu machen und dann zu verzehren. Der Streitfall Gluten erübrigt sich für die meisten damit automatisch, da das strittige Protein durch den Fermentationsprozess zu 95 % abgebaut wird.
Quellen
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